Wie viel Utopie verträgt die Wirklichkeit?

Die „3 Hamburger Frauen“ in der Grafschafter Volksbank

Besucherinnen und Besucher sowie Mitarbeitende der Grafschafter Immobilien Management GmbH treffen in diesen Tagen im Eingangsbereich und im kleinen Konferenzraum in der 4. Etage des NINO Hochbaus auf ein stark verändertes Erscheinungsbild. Die Mitglieder der Künstlerinnengruppe „3 Hamburger Frauen“ waren während des zweiten Advent-Wochenendes aktiv und haben malerische Spuren hinterlassen. Doch das ist erst der Anfang. Sie befinden sich zur Zeit in der ersten Realisierungsphase eines Gesamtkunstwerks, das voraussichtlich Anfang März 2024 offiziell eingeweiht wird. Erst dann werden die insgesamt vier Wandgemälde vollendet sein. Zudem wird auch noch ein halbes Dutzend großformatiger, gerahmter Papiercollagen hinzukommen, die an ausgewählten Stellen in den Gängen der Abteilung aufgehängt werden. Eine zweite Realisierungsphase für die Wandgemälde ist für den Februar 2024 geplant. Dann sind die Künstlerinnen wieder vor Ort und stehen auch für kurze Gespräche über ihre Arbeit zur Verfügung.

Zum Hintergrund: Seit nunmehr sechs Jahren baut die Grafschafter Volksbank kontinuierlich eine Kunstsammlung mit zeitgenössischen Werken überwiegend jüngerer Künstlerinnen und Künstler auf. In diesem Zusammenhang werden nicht nur Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Skulpturen und Arbeiten anderer Medien erworben, sondern regelmäßig auch ortsbezogene Arbeiten in Auftrag gegeben.

So hat die Berliner Künstlerin Christine Rusche im Jahr 2018 das Treppenhaus der Hauptstelle von der Tiefgarage bis in die Vorstandsetage hinein mit einem abstrakten, schwarz-weißen Wandbild versehen. Der in Berlin lebende Künstler Stefan Marx hat sich im selben Jahr für sein zweiteiliges Gemälde „Nordhorn Hafen“ im Alten Zollhaus eingehend mit der vom Wasser dominierten Stadtgeschichte Nordhorns beschäftigt und seine Eindrücke in seine typische, mit Comic-Elementen versetzte Ästhetik übertragen. Die Wienerin Claudia Larcher wiederum hat 2019 im zentralen Konferenzraum in der Hauptstelle eine Wandtapete mit Treppenmotiven aus der Architekturgeschichte, aber auch aus Nordhorn realisiert. Und zuletzt hatte 2022 die in Hamburg und Detroit (USA) lebende Künstlerin Cordula Ditz zwei Neonarbeiten und einen Teppich mit Motiven aus der Grafschaft für das Foyer der Abteilung Freie Berufe und Institutionen (FBI) realisiert.

Nun entstand auch in der Abteilung Grafschafter Immobilien Management der Wunsch, das Thema Kunst stärker in den Mittelpunkt zu rücken.

Die Wahl fiel auf die Künstlerinnengruppe „3 Hamburger Frauen“. Diese besteht aus den Malerinnen Ergül Cengiz, Henrieke Ribbe und Kathrin Wolf. Alle drei haben an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste (HFBK) studiert. Mittlerweile leben die drei in verschiedenen Städten, nämlich in Hamburg, Berlin und München.  Doch das Label „3 Hamburger Frauen“ bleibt. Jede von ihnen realisiert aber auch unabhängig von den beiden anderen ihr eigenes Werk. Immer wieder jedoch finden sie sich in der Konstellation „3 Hamburger Frauen“ zusammen, um an ausgewählten Orten im deutsch-sprachigen Raum, im europäischen Ausland oder auch schon einmal in Shanghai temporäre oder permanente Gemeinschaftsarbeiten zu realisieren. Hauptsächlich handelt es sich dabei um meist großformatige Wandgemälde oder Wand- und Fassadengestaltungen. Daneben sind aber bereits auch schon einige Kunst am Bau-Projekte, auch in Form von Skulpturen entstanden. Im April 2024 wird die Gruppe ihr 20-jähriges Jubiläum feiern.

Für ihre Arbeit in der Grafschafter Immobilien Management GmbH haben sich die Künstlerinnen zunächst im Rahmen eines Recherche-Besuchs in Nordhorn mit den architektonischen Gegebenheiten, der spezifischen Ausrichtung der Immobilienabteilung und der lange Zeit von der Textilindustrie geprägten Stadtgeschichte beschäftigt. Doch diese eher faktenbasierten Inspirationen bilden nur eines Facette der jetzt realisierten Arbeit.

Entscheidende Elemente, die hinzukommen, sind etwa fantasievolle Anspielungen auf die Literatur- und Theatergeschichte oder die griechische Mythologie. Hier sind insbesondere die drei Moiren namens Klotho, Lachesis und Atropos, eine Gruppe von Schicksalsgöttinnen, zu nennen, die in verschiedenen Personifizierungen in die Wandgemälde der „3 Hamburger Frauen“ eingearbeitet sind.

In den Erzählungen der griechischen Mythologie nehmen die Moiren eine ganz besondere Rolle ein, die sie bis in die Gegenwart hinein, sozusagen als „Role Models“ weiblicher Selbstbestimmtheit erscheinen lassen. Sie lenken das Schicksal der Menschheit und sorgen für Recht und Ordnung in der griechischen Götterwelt. Weibliches „Empowerment“, wie die „3 Hamburger Frauen“ es hier zitieren und mit ihren eigenen Konterfeis vermengen, gab es also schon in der Antike.

Beispielhaft auf den Wandgemälden zu sehen sind typische Attribute und Symbole der Moiren wie die Spindel und der Schicksalsfaden. Elemente also, die sich auch mit der Textilindustrie in Verbindung bringen lassen. Wer genau hinschaut, wird auf den Wandgemälden sowohl den NINO Hochbau erkennen, als auch von historischen Fotografien inspirierte Szenen aus der Textilproduktion, die hier einst stattgefunden hat.

Doch einige andere Elemente kommen noch hinzu. Die an sich strenge, von rechten Winkeln dominierte Rasterarchitektur des NINO Hochbaus kontrastieren die „3 Hamburger Frauen“ mit einer überaus fantasiebetonten und organischen Gegenwelt, die ganz unterschiedliche Elemente in sich vereint. Da werden etwa psychedelische Stoffmuster in typischer 70er-Jahre-Optik aus der Sammlung des Stadtmuseums zitiert und variiert. Unterschiedlichste Pflanzen und Blumen sind zu sehen von der Orchidee bis zur fleischfressenden Venusfliegenfalle. Daneben tauchen aber auch – wir befinden uns schließlich in der Abteilung einer Bank – Symbole der Wertbeständigkeit oder des Wertverlustes auf, wie etwa geschliffene Diamanten oder Banknoten aus der Inflationszeit in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Ein weiterer, gleich ins Auge fallender Baustein der Arbeit sind Comic- und Cartoon-Elemente wie Sprechblasen und Bubbles mit Symbolen oder Lautmalereien wie „Bang“, „Aaah“ oder „Boom“. Diese  knüpfen direkt an typische Situationen aus der Arbeitswelt an, wie sie auch in der Abteilung Tag für Tag vorkommen: Konferenzen, kollektive Denkprozesse, plötzliche Geistesblitze und verworfene Ideen finden ihren visuellen Widerhall in den Wandgestaltungen der „3 Hamburger Frauen“.

Der Businessrealität des Bank- und Immobiliengeschäfts in der 4. Etage des Wirtschaftskompetenzzentrums im NINO Hochbau setzen die „3 Hamburger Frauen“ somit eine farbenfrohe und formenreiche Gegenwelt entgegen, die die natürlichen Prozesse des Schönen, des Organischen, aber auch der weiblichen Intuition und des weiblichen Handelns augenzwinkernd ins Blickfeld rückt. Frauen, die tatkräftig handeln und Schicksalsfäden zerbeißen, Frauen, die sich selbstbewusst und modisch stilvoll selbst inszenieren.  Frauenpower mit durchaus auch feministischen Untertönen.

Das alles kann man auf den berauschend detailreichen, üppig-farbigen und in einem intensiven gemeinschaftlichen Mal- und Kompositionsprozess entstehenden Wandgemälden der „3 Hamburger Frauen“ entdecken. Ergül Cengiz, Henrieke Ribbe und Kathrin Wolf tauchen als Trio immer wieder in Form von Selbstporträts auf ihren Arbeiten auf: als lässige Cowgirls, als coole Ladies in eleganten Abendkleidern, als Models im Stil der Sixties à la Emma Peel und natürlich vor allem als Schicksalsgöttinnen. So deklinieren sie spielerisch und angereichert mit viel Humor und Selbstironie die unterschied-lichsten Formen weiblicher Selbstinszenierung durch und werfen für die Arbeitswelt relevante Fragen auf: Wer hat hier in der Immobilienabteilung der Grafschafter Volksbank eigentlich die Fäden in der Hand? Wie wird sich die bisher noch überwiegend männerdominierte Geschäftswelt in Zukunft durch die Kraft der Frauen verändern? Kurzum: Wieviel Utopie verträgt die Wirklichkeit?

Nicole Büsing & Heiko Klaas      (10.12.2023)